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AutorenbildRolf Dietrich

Geschichten zum Vorlesen für Demenzkranke - Das Feld der Mütter



Eine Geschichte zur Befreiung von Schuld, Scham und schlechtes Gewissen, von Rolf Dietrich


Die Wörter und Satzteile, die betont werden sollen, sind im Text kursiv und fett dargestellt. Insgesamt sollte die Geschichte sehr ruhig und langsam vorgetragen werden. Die Punkte … zeigen an, wann und wie eine Pause gemacht werden sollte.


Es ist ein wunderschöner Tag. Carla beschließt heute einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Sie fühlt sich sehr entspannt und möchte die gerade aufkeimende Natur genießen. … In ihrem Garten haben die ersten Büsche ihre Blütenpracht in ersten Zügen zum Vorschein gebracht. Allein dieser Anblick lässt in ihr das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit aufsteigen. ... Sie schreitet auf ihrem schönen Grundstück noch einmal umher und genießt Teich und Bachlauf. Dieses leise Plätschern passt zu ihrer freudigen und gelösten Haltung. ……


Es ist noch etwas frisch, deshalb geht sie noch einmal ins Haus hinein und zieht sich die leichte Jacke an. Jetzt wird es Zeit sich auf den Weg zu machen.


Ca. 100 Meter hinter ihrem Haus führt ein Feldweg direkt hinaus in die Natur. …

Sie genießt das laute Vogelgezwitscher in den Sträuchern und Bäumen am Wegesrand. Das hilft ihr immer intensiver zu genießen und ihre Gedanken immer mehr, zur Ruhe kommen zu lassen. … Sie genießt den herrlichen Ausblick auf die Täler und Berge hier. … Der Wechsel zwischen den grünen Feldern und den bunten Obstbäumen fasziniert immer wieder. Diese leuchtenden Farben bieten ein Bild von Frohsinn und Leichtigkeit. ……


Sie bewegt sich in einem ruhigen und gelassenen Tempo den Weg entlang und sieht jetzt vor sich einen leichten Anstieg zu einem ihrer Lieblingsplätze. Von dort hat sie einen wunderbaren Blick auf die Berge, in denen das Märchen von Schneewitschen und den sieben Zwergen spielt. …


Diese Geschichte von dem schönen Mädchen, das vor der bösen Stiefmutter fliehen muss, kommt ihr bei diesem Gedanken in den Sinn. Oben angekommen setzt sie sich auf ihre Bank und entspannt. Sie schaut auf die ruhig vor ihr liegenden satten grünen Wiesen und genießt die Ruhe. ……

Sie selbst war auch in jungen Jahren von zu Hause weg gegangen. Als Kind hatte sie immer viel arbeiten müssen. Für das Spielen gab es eigentlich keine Zeit. Immer musste sie auf dem Bauernhof mitarbeiten. Sie hatte auch das Gefühl, dass ihre jüngeren Geschwister weniger leisten mussten und auch mehr von der Mama geliebt wurden. …


Sie hatte immer davon geträumt, dass sie ein Prinz irgendwann abholen und mit ihr zu seinem Schloss reiten werde. Ähnlich wie in dem Märchen von Schneewitschen. ……


Wie hatte sie es immer gestört, wenn sie ihren Namen in voller Länge, lang gezogen, durch den Hof hörte <Caaaarlaa>. Wenn dieser Ton erklang, dann musste sie wieder irgendetwas erledigen und zwar ziemlich schnell. … Egal was sie selbst gerade im Sinn hatte. Sie hatte das Gefühl nie wirklich Kind sein zu können. Es gab nur Schule und Arbeit, Arbeit, Arbeit! ……


Damals war sie öfters einfach weggelaufen und hatte sich dann irgendwo im Wald oder auf einem Felsen versteckt. Hier konnte sie dann ihre Träume leben. ……


In ihren Träumen hatte niemand ihr zu sagen, was sie zu tun und zu lassen habe. Hier war sie frei. … Niemand bestimmte über sie. … Für sie war es klar, wenn sie einmal Kinder haben werde,dann soll es denen besser gehen. … Sie sollten ihre Freiheit haben und sich nicht ständig mit Arbeit plagen müssen. … Sie werde keine Mutter werden, die ihre Kinder in ihrer Freiheit einschränken will! ……


Bei diesen Gedanken wurde sie ganz traurig. Jetzt wo sie schon die Siebzig überschritten und ihre Kinder selbst schon Kinder hatten, was ist aus all diesen Träumen geworden? ……


Carla hat das Gefühl, das sie vieles falsch gemacht hat. Da kommen die Gefühle von Schuld, Scham und schlechtem Gewissen auf. Ich wollte doch alles anders und besser machen. Aber zu ihrer ältesten Tochter hat sie gar keinen Kontakt mehr. Das Letzte was ihr noch in den Ohren klingt sind die Worte, „wo warst du Mama als ich dich gebraucht habe. … Nie warst du wirklich für mich da. … Ich wollte dich einmal für mich haben, aber du hattest immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit im Kopf.“……


Bei den Gedanken an diese Worte fühlte sie sich beschämt. ……


Was hätte sie anders machen können? ......


Sie hatte doch so viel gearbeitet, damit die Kinder einmal nicht ständig mitarbeiten mussten. Ja, dadurch war sie natürlich wenig zu Hause. Sie war in der ganzen Welt herumgereist und hatte die Mode der Frauen in dieser Zeit mitbestimmt. … Selbst wenn sie zu Hause war, gab es ständig etwas für das Unternehmen zu tun. …….


Aber dadurch waren die Kinder doch frei, dachte sie. Sie mussten doch nicht irgendwo ständig mithelfen. Sie konnten reiten gehen, ihren Sport treiben, gute Schulen besuchen und ein freizügiges Leben genießen. ……


Irgendwie hatte dies wohl nur mit ihren Wünschen zu tun. Ihre älteste Tochter hatte es nur ausgesprochen, was sie sich von ihr gewünscht hatte.

Bei diesem Gedanken war es ganz leer in ihr. … Zu dieser Leere mischt sich Ruhe. ……


Ganz in der Ferne hörte sie eine Stimme, die sie kannte. Das war die Stimme von Frau Buchsbaum. Sie war früher die Frau, die sie um Rat fragen konnte, wenn sie es zu Hause gar nicht mehr aushalten konnte. Sie wirkte damals schon sehr beruhigend auf sie und jetzt, da sie ihre Stimme immer lauter in sich hörte, war wieder das gleiche Gefühl da. ……


Kind“, … so hatte sie früher auch immer zu ihr gesagt, „Kind, du kannst tun und machen was du willst, andere Menschen haben andere Träume. ……

So wie du deine Träume hattest, so hat dein Kind seine eigenen Träume. ……

Das was wir glauben nicht zu haben, danach sehnen wir uns am meisten.“ ……


Die Stimme war so warm und wohltuend. Sie beruhigte so ganz anders. ……


Die Stimme in ihr klang weiter. „Oftmals sind wir in unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen gefangen, so dass wir die der anderen nahe stehenden Menschen um uns herum, nicht wirklich gut erkennen. … Dies hat aber nicht mit Schuld zu tun, sondern mit Unachtsamkeit. Merke es dir, es ist Unachtsamkeit.“ ……


Dieser Satz hallt wie ein Echo noch in ihr nach. ……

Die Stimme in ihr schweigt für eine kurze Zeit. Dann spricht Frau Buchsbaum weiter: „Schau auf deine Mama zurück, auf all ihre Fehler


und Menschen machen einfach immer wieder Fehler. … Ja diese Mama die gab es. … Schau aber auch auf die Mama zurück, die ihre lieben Momente hatte. ……


Wenn sie dich in den Arm genommen hat, wenn du gerade wieder weggelaufen warst. … Wie sie so froh war, dich wieder in den Arm zu nehmen. … Diese Mama gab es auch.“ ……


Die Stimme schwieg wieder für eine kurze Zeit. ……


„Kinder lieben ihre Mama, auch wenn sie viele Fehler gemacht hat.Die Liebe zwischen den Menschen ist das größte Geschenk, das wir haben. … Die Liebe zur Mama bleibt erhalten, egal welche Fehler gemacht wurden. … So wie du deine Mama lieb hast, so ähnlich haben auch deine Kinder dich lieb.“ ……


„Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig verzeihen. … Besonders wichtig ist es aber, dass wir uns selbst verzeihen. ... Die Liebe ist viel stärker, als all das, was wir an Schwächen im Leben erzeugen. Gehe auf dein Kind zu und liebe es, einfach so wie es ist, es liebt dich auch, selbst wenn es dies nicht immer direkt zeigen kann. … Erwarte nicht mehr als du selbst bereit bist zu geben! … Liebe ist das Schönste was wir haben!“ ……


So wie die Stimme gekommen war, so ging sie auch wieder davon.

Bei Carla hallte immer wieder ein Satz im Ohr nach, „Mama, ich habe dich so lieb!“ ……


Sie hatte das Gefühl schon eine Ewigkeit hier an diesem Platz zu sitzen. Sie fühlte sich jetzt so unglaublich erleichtert. ……


Dieses Gefühl von Liebe zu ihrer Mama und das noch etwas mulmige Gefühl der Liebe von ihrer Tochter, ließen sie etwas wackelig den Weg zurück zu ihrem Haus in Angriff nehmen. Es war jetzt klar, dass sie wieder Kontakt mit ihrer Tochter aufnehmen werde und sich darüber freuen wird, egal was dabei geschieht. … „Fehler sind menschlich und ich hab dich lieb.“ ……


Dies soll für sie das Motto der nächsten Begegnung mit ihrer Tochter sein. ……


Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass auf dem Weg zurück, sie sich lebendiger fühlte. Das Gefühl von Freiheit war jetzt nicht wieder von Sehnsucht, sondern von Erleichterung geprägt. … Alles, was sie sich jetzt anschaute, wirkte noch kräftiger und farbenfroher. Die Geräusche der Tiere waren noch klarer und feinfühliger wahrzunehmen. Carla war froh, als ihr zu Hause in der Ferne zu sehen war. ……


ES WAR EINFACH GUT!

 

Diese Blogbeiträge bilden eine ganze Reihe von Geschichten, die darauf abzielen, durch Erzählungen einen Zugang zum inneren Erleben von Demenzerkrankten zu ermöglichen. Das Hauptziel ist es, ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse und Kompetenzen wiederzuentdecken und für sie hilfreiche Optionen zu entwickeln.


In dieser Reihe nehmen die Demenzerkrankten eine besondere Rolle als Entdecker ihrer eigenen Ressourcen ein. Als Unterstützer und Helfer bieten wir immer wieder neue Geschichten an, um ihnen Zugänge zu eröffnen. Diese unkonventionelle Herangehensweise kann eine gravierende Veränderung der Situation bewirken und zeigt dabei ein hohes Maß an Wertschätzung für die Würde der betroffenen Personen.


Meine eigene Erfahrung mit Demenzerkrankten wurde vor vielen Jahren geprägt, als meine Patentante 1994 an Krebs erkrankte und Anzeichen von Demenz zeigte. Während meiner Besuche erzählte sie mir Geschichten aus meiner Kindheit und von den gemeinsamen Erlebnissen. In diesen Momenten wirkte sie klar und fröhlich.


Im Laufe der Zeit verschlechterte sich jedoch ihr Zustand sowohl körperlich als auch geistig. Ihre Tochter, die sich um sie kümmerte, tat ihr Bestes, um sie zu unterstützen.


Die von uns gemeinsam festgelegten Rollennamen "kleiner Zwerg" für mich und "Schneewittchen" für sie begleiteten uns auch in den fortgeschrittenen Phasen der Demenz. Selbst während ihrer letzten Lebensphase erkannte sie mich in dieser Rolle. Andere Personen verloren für sie immer mehr an Bedeutung. Doch die Geschichten boten bis zum Schluss die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten.


In dieser Reihe von Blogbeiträgen möchte ich Ihnen als Geschichtenerzähler die Fähigkeit wünschen, wunderbare Zugänge und Kontakte zu den von Ihnen ausgewählten Menschen zu schaffen.


Oktober 2014 Rolf Dietrich




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